Die Pandemie bei Amazon
30. April 2020
Jeff Bezos und Stefano Perego:
Amazon Workers International (AWI) ist ein grenzübergreifender Zusammenschluss von Amazon- Beschäftigten aus verschiedenen Gewerkschaften und Ländern, unter anderem aus Deutschland, Polen, Spanien, Frankreich, der Slowakei und den USA. Seit 2015 treffen wir uns regelmäßig, um Informationen auszutauschen und Aktionen wie „Safe Package“ zu koordinieren, von denen Sie vielleicht schon gehört haben.
Mit diesem offenen Brief verfolgen wir zwei Ziele. Erstens wollen wir eine Reihe von gemeinsamen Forderungen vorstellen, welche auch die Forderungen aufgreifen, die neulich von „Amazon Employees for Climate Justice“ aufgestellt wurden, einem Zusammenschluss von höheren Angestellten in den Amazon-Büros auf der ganzen Welt. Dazu gehört auch die Forderung, einige der positiven Veränderungen beizubehalten, die in den letzten Wochen in den Warenlagern eingeführt worden sind, und zwar als Reaktion auf den weltweiten Druck der ArbeiterInnen auf das Amazon-Management.
Wir fordern auch transparente Richtlinien, sichere Arbeitsplätze, einen Schutz vor willkürlichen Kündigungen und die Zusammenarbeit mit den Organisationen der ArbeiterInnen.
Zweitens stellen wir aber nicht nur Forderungen für die Zeit nach der Pandemie auf. Sie arbeiten zwar schon daran, diese vorübergehenden Fortschritte wieder rückgängig zu machen, aber die Lage in den Betrieben zeigt uns, dass die Krise und die Ansteckungsgefahr noch lange nicht eingedämmt sind. Wir sehen ja, dass unsere KollegInnen weiterhin krank werden. Wir prangern an, dass Amazon weiterhin das Ausmaß der Ausbreitung des Coronavirus in seinem Logistiknetzwerk vertuscht, dass Amazon weiterhin Menschenleben in Gefahr bringt und sich dabei fälschlicherweise als systemrelevantes Unternehmen darstellt und dass Amazon ArbeiterInnen, die sich dagegen wehren, rauswirft und zum Schweigen bringt. Wir fordern Sie auf, diese Praktiken jetzt zu beenden!
Verbesserungen am Arbeitsplatz
Im März und April diesen Jahres haben LagerarbeiterInnen in verschiedenen Ländern – darunter Italien, Frankreich und die USA – aus Protest gegen die gefährlichen Arbeitsbedingungen die Arbeit niedergelegt. In anderen Ländern wie Deutschland, Polen und Spanien haben die Gewerkschaften das hohe Ansteckungsrisiko in den Warenlagern kritisiert. Überall sind ArbeiterInnen zu Hause geblieben, weil sie sich am Arbeitsplatz nicht ausreichend geschützt fühlen. Diese Proteste haben breite Aufmerksamkeit in den Medien erhalten. Erst auf Druck der normalen Amazon-Beschäftigten aus der untersten Lohngruppe (tier 1) – und nicht früher – hat das Management angefangen etwas zu ändern.
Wir fordern von Amazon:
- Beibehaltung der Lohnerhöhungen. Unsere Arbeit hat Jeff Bezos seit dem Beginn der Corona-Krise um 24 Milliarden US-Dollar reicher gemacht. Das Unternehmensvermögen ist gewachsen, während wir unter großer Gefahr für uns selbst, unsere Familien, unser Umfeld und die ganze Gesellschaft weiter arbeiten. In Ländern wie Polen und der Slowakei nehmen die Menschen diese Risiken auf sich, ohne davon zu profitieren, denn die Waren, die wir schleppen, stapeln und sortieren, werden in andere Länder verschickt und verkauft. Das Unternehmen dankt uns in Durchsagen und auf den Klokabinen für unseren großartigen Beitrag zum Weiterfunktionieren der Gesellschaft. Uns ist es zu verdanken, dass die Welt nicht durch den Corona-Virus zusammengebrochen ist. Zum Ausgleich für diese Leistung haben wir eine vorübergehende Lohnerhöhung zwischen 0,83 Cent (Polen) und 1,85 Euro pro Stunde bekommen. In den USA wollen Sie diese Lohnerhöhung schon zum 16. Mai zurücknehmen, woanders kennen wir Ihre Pläne noch nicht. Wir fordern die dauerhafte Beibehaltung dieser Lohnerhöhungen – als Anerkennung unserer zentralen Rolle als LagerarbeiterInnen und als kleines Stück vom großen Reichtum, den wir für Amazon produziert haben.
- Beibehaltung der zusätzlichen fünf Minuten Pause. Amazon hat unsere Pausen jeweils um fünf Minuten verlängert. Laut Management ist die zusätzliche Pausenzeit notwendig, damit wir uns ausreichend um unsere Gesundheit und Sicherheit kümmern können. Wir brauchen immer genug Zeit, um uns um unsere persönliche Gesundheit und Sicherheit zu kümmern. Wir können bestätigen, dass kürzere Pausen dafür nicht ausreichen. Da Sicherheit bei Amazon immer höchste Priorität hat, nicht nur während der aktuellen Pandemie, fordern wir, dass die Pausen dauerhaft um fünf Minuten verlängert werden.
- Dauerhafte Aussetzung des Produktivitäts-Feedbacks. Da Amazon gesehen hat, dass das Ziel einer Produktivitätsrate von über 100% nicht mit dem Ziel sicherer Arbeitsbedingungen in Einklang zu bringen ist, wurde das Feedback-System ausgesetzt (siehe Abbildung 1). ArbeiterInnen- Organisationen weisen schon seit Jahren auf diesen Zusammenhang hin. Ohne Feedback können wir ArbeiterInnen uns auch ausreichend um unsere Gesundheit und Sicherheit kümmern, denn wir müssen nicht die ganze Zeit Angst haben, dass wir nicht schnell genug arbeiten. Wir können uns die Hände so oft wie nötig waschen, ohne Angst, nach negativen Feedback durch unsere Vorgesetzten entlassen zu werden. Es ist interessant, dass Amazon auch ohne dieses System, das so viel Arbeit wie nur möglich aus uns herauspressen soll, einen Haufen Profite macht. Im März lag die Produktivitätsrate des Fulfillment Center in Poznan, POZ1, zwischen 100 und 104,9 %. Die Feedbacks behindern nur die Arbeitssicherheit und sollten daher dauerhaft ausgesetzt werden.
Transparenz und Zusammenarbeit
Trotz einer globalen Pandemie, der Ausrufung des Notstands in verschiedenen Ländern, in denen Amazon operiert, und weltweit Millionen von bestätigten Infektionen und über 200.000 Toten weigert sich die Firma, die Gesamtzahl der Corona-Infektionen in ihren Warenlagern herauszugeben. Wenn lokale Behörden oder hartnäckige JournalistInnen das Unternehmen dazu zwingen, dann werden Informationen über Infektionen in einzelnen Warenlagern herausgerückt – aber nur mit tage- und manchmal wochenlanger Verspätung. Und auch Betriebsschließungen für eine gründliche Desinfizierung scheinen nicht zur Unternehmenspolitik zu gehören, außer sie werden von den ArbeiterInnen durch Arbeitsniederlegungen durchgesetzt. Da Amazon Gewerkschaften nicht als Partner bei Entscheidungen betrachtet, werden wir über die Krisenmaßnahmen des Unternehmens und Änderungen der Arbeitsorganisation in der aktuellen Ausnahmesituation im Dunkeln gelassen. Hinsichtlich der aktuell in den Warenlagern umgeschlagenen Güter schließlich hat das Unternehmen die Öffentlichkeit systematisch hinters Licht geführt (siehe Abbildungen 2-6). Zu keinem Zeitpunkt in den letzten Wochen hat sich das Unternehmen auf die Auslieferung lebensnotwendiger Güter beschränkt. Das Unternehmen muss endlich seine Gutsherren-Attitüde gegenüber uns ArbeiterInnen und unseren Organisationen ablegen.
Wir fordern von Amazon:
- Öffentliche Bekanntmachung der Unternehmensrichtline für das Verfolgen und Berichten von COVID-19-Fällen, einschließlich einer Liste von bestätigten und wahrscheinlichen Infektionen und von Todesfällen unter Vollzeit, Teilzeit- und LeiharbeiterInnen aufschlüsselt nach Betrieben.
- Zwei Wochen bezahlte Krankenzeit und Verlängerung des Rechts auf unbegrenzten unbezahlten Urlaub in den USA. Wie notwendig das ist, wird klar, wenn wir uns klarmachen, wie stark die Beschäftigten dem Virus ausgesetzt sind. In diesen ersten Monaten der Pandemie mussten sich die ArbeiterInnen in den USA zwischen ihrer Gesundheit und der Zahlung ihrer Miete entscheiden. Jetzt werden sie sich zwischen ihrer Gesundheit und ihrem Arbeitsplatz entscheiden müssen. Amazon muss uns zeigen, dass die massenhaften Neueinstellungen in diesen ersten Monaten der Pandemie nicht dazu dienen, diejenigen ArbeiterInnen, denen ihre Gesundheit vorgeht, zu ersetzen.
- Ernst gemeinte Verhandlungen mit den Gewerkschaften mit dem Ziel, eine Vereinbarung zu Risikoabschätzung und Arbeitsorganisation abzuschließen, vor allem in Zeiten der Krise; Amazon ist jüngst sowohl vom Obersten Gerichtshof in Nanterre als auch vom Appellationsgericht in Versailles (beide in Frankreich) bestraft worden, weil das Unternehmen die Arbeitssicherheit nicht mit den BeschäftigtenvertreterInnen abgestimmt hat. So geht das Unternehmen aber in all seinen Warenlagern vor. Wir fordern, dass das Unternehmen die BeschäftigtenvertreterInnen ernst nimmt, vor allem bei der Abstimmung von Änderungen der Arbeitsorganisation und bei der Abschätzung der mit diesen Änderungen einhergehenden von Risiken. Wir fordern, dass die Gewerkschaften an den Krisenmanagementteams des Unternehmens beteiligt werden.
- Öffentliche Klarstellung, nach welchen Kriterien das Unternehmen systemrelevante Lieferungen innerhalb ihres globalen Netzwerks priorisiert. Stopp der Lieferung nicht systemrelevanter Waren in den Ländern, in denen das noch nicht geschehen ist.
Arbeitsplatzsicherheit und Kündigungsschutz
Amazon kann es sich leisten, die Arbeitsplätze aller Beschäftigten zu sichern. Aber gerade jetzt, wo die Lagerarbeit große Infektionsrisiken mit sich bringt, stellt das Unternehmen Tausende von ArbeiterInnen neu ein – ohne jede Arbeitsplatzsicherheit. An Standorten, wo früher niemand über Leiharbeitsfirmen beschäftigt wurde, werden jetzt ArbeiterInnen mit auf zwei Wochen befristeten Verträgen eingestellt. LeiharbeiterInnen mit Einmonatsverträgen werden bestraft, wenn sie es wagen, sich einen Tag lang krankzumelden. Wenn sie überhaupt wieder zurückgeholt werden, dann meist mit Zweiwochenverträgen. Direkt durch Amazon eingestellte Blue Badge-ArbeiterInnen mit befristeten Verträgen, die sich krankschreiben lassen, riskieren, dass ihre Verträge nicht verlängert werden. Sogar Amazons höhere Büroangestellte sind von dieser Willkür abhängig.
Wir fordern von Amazon:
- Schluss mit allen Formen von prekärer und befristeter Beschäftigung.
Schließlich stellen Amazons Vergeltungsmaßnahmen gegen ArbeiterInnen und die vom Unternehmen praktizierte Zensur einen groben Machtmissbrauch dar, den die fehlende Arbeitsplatzsicherheit natürlich noch verstärkt. Amazon muss sich bei den entlassenen Beschäftigten entschuldigen und dafür sorgen, dass so etwas nicht wieder passiert. Amazon darf ArbeiterInnen, die in Fragen von Leben und Tod den Mund aufmachen, niemals zum Schweigen bringen. Die systemrelevanten ArbeiterInnen, die Amazons digitale und physische Infrastruktur aufrecht erhalten, verdienen nicht Strafe, sondern Respekt, wenn sie den Mund aufmachen und füreinander einstehen.
Wir fordern von Amazon:
- Sofortige Wiedereinstellung aller ArbeiterInnen, die aufgrund der willkürlichen Auslegung von Richtlinien und Verhaltensregeln entlassen wurden und die ihre Arbeitsplätze wiederhaben wollen.
- Änderung des Umgangs mit der Öffentlichkeit. Keine Bestrafung von ArbeiterInnen, die sich in ihrem eigenen Namen und nicht im Namen des Unternehmens zu Fragen äußern, die direkt die Gesundheit und Sicherheit von ArbeiterInnen und KundInnen betreffen, einschließlich Arbeitsbedingungen während der Pandemie, Klimakrise und Umweltverschmutzung.
- Faire und transparente Durchsetzung von Vorschriften wie z.B. Anhörungen und Vorlage von stichhaltigen Beweisen vor der Verhängung von Disziplinarmaßnahmen, keine willkürliche Anwendung von Vorschriften, Verhältnismäßigkeit von Disziplinarmaßnahmen zur Schwere des Verstoßes und zu den Umständen der Situation.
Gerade jetzt, wo Politiker und Arbeitgeber versuchen, zu einem falschen Gefühl von Normalität zurückzukehren, könnte Amazon – das in dieser Zeit viel Geld verdient hat – sich vorbildhaft verhalten, indem es der Gesundheit seiner ArbeiterInnen und der Gesellschaft Vorrang einräumt. Stattdessen entscheiden Sie sich dafür, weiterhin so schlecht auszusehen wie kein anderes Unternehmen. Wir fordern: Hören Sie auf, systemrelevante ArbeiterInnen wie Wegwerfartikel zu behandeln, und fangen Sie an, mit denen zusammenzuarbeiten, die einen anderen Weg vorschlagen. Hören Sie auf, Ihre Beschäftigten zu entlassen, und beginnen Sie zuzuhören.
Der Lenkungsausschuss im Namen von Amazon Workers International
- Christian Krähling, Bad Hersfeld, Deutschland
- Agnieszka Mróz, Poznań, Polen
- Jean-François Bérot, Orléans, Frankreich
- Sabrina Flourez, Lille, Frankreich
- Vanessa Carrillo Ruiz, Chicago, USA
- Maria Malinowska, Poznań, Polen
- Marta Rozmysłowicz, Poznań, Polen
- Christian Zamarrón, Chicago, USA
AMAZON WORKERS INTERNATIONAL
awi@riseup.net